Der Meridian (Text zur Bilderserie „Meridiane“)

 

Malen, das ist der farbige Weg einer Suche von mir auf mich zu, auf das zu, was zu werden ich als Möglichkeit begreife. Es ist ein Zu-mir-Kommen, ein Hineinhorchen in die eigenste Enge, um sich dort – und das ist der entscheidende Schritt im Malakt – freizusetzen. Wenn dieses Loslassen von sich selbst nicht ganz gelingt, dann läuft jeder kreative Prozess Gefahr, zum Verdoppelungsprozess eines selbstgefälligen Bewusstseins zu werden. Im Ausstieg aus den Bezügen zur Lebenswelt wird Malen auch ein Suchen entlang der Farbe von mir zu dir und über dich zu dir zurück und geht vielfach Umwege im Bemühen anzukommen. Die in Farbe gelegten (Um)Wege erschließen Räume: Räume der Zerrissenheit, der Irritation und Fragwürdigkeit; Räume auch der Kontemplation, der Inspiration und hoffentlich der Kommunikation. In dieser Vielfalt von Versuchen, in diesen Andeutungen von Möglichkeiten sucht der Mensch immer nach Orientierung, die seiner Wirklichkeit zum Maß wird.

 

Da Bilder aber immer Bruchstücke sind, da sie nur einseitig das Leben oder den Menschen fassen, da mit Farbe, Linie und Fläche nur Entwurfsformen abgehandelt werden, bedarf es eines Glücksfalls, um vielleicht auf eine Metapher zu stoßen, die den Geist (auch den des Betrachters) in seine Freiheit und Verantwortung setzt. Die Metapher ist ja keine Form, die zuerst da ist, um dann im Bild gestaltet zu werden. Während der Arbeit taucht sie plötzlich auf, rätselhaft, wie ein ferner Klang. Und dann erst beginnt die eigentliche Arbeit am Bild: Im Herausschälen der Metapher – in ständig neuen Varianten gilt es sich ihrer zu versichern. Die Metapher wird so zum Angebot, das Denken an ihrem Leitfaden in der Freiheit der Bildwerdung zu vertiefen. Erst mit der andrängenden Metapher wird das Malen zum Denken in Farbe und Form.

 

In der sich überlagernden Dichte von Linie und Farbe hat sich der Meridian als Sonderform der Senkrechten in der Ebene des Bildes eingefunden. Da der Meridian aber nicht eigentlich senkrecht ist, sondern an den Polen sich selber findend zum Kreis wird, weil er geographisch vervielfacht die Welt als Netz umspannt und sowohl zum Ordnungsprinzip unserer Zeiterfahrung geworden ist, als auch zum Raster unserer Erdvermessung, weil er astronomisch als Mittagskreis den höchsten Stand der Gestirne kennzeichnet, weil er jene Linie ist, die den Horizont durchsticht, weil er zum Fixpunkt für die Seefahrt wird, weil er in all diesen Funktionen innerhalb der Mathesis unserer Naturerkenntnis die Kontinuität kennzeichnet und Verknüpfungen markiert, weil er also eine ausgezeichnete Rolle als Orientierungsschema einnimmt, muss sehr behutsam in der Bildgestaltung auf ihn zugegangen werden. Und vielleicht kann der Meridian dann als metaphorische Konstante im Bild, über die ihm zukommenden Funktionen hinaus, eine neue Tiefe und Lebendigkeit bekommen. J.P.