Die Senkrechte Die Senkrechte ist die Linie des Grashalms, des Getreides, des Lebens, das sich nach der Sonne richtet. Ihr zu folgen ist dem Menschen gegeben. Er hat sich nicht nur selbst aufgerichtet, er hat die Senkrechte perfektioniert und als harte unausweichliche Konstante, als ordnendes Prinzip zu seiner Linie gemacht. Mehr als die Horizontale ist sie zur bestimmenden Linie seiner Wirkweise geworden. Während die Waagrechte die Linie der Dauer und des Kontinuums der Zeit darstellt und optisch eher die Empfindungen Ruhe und Gelassenheit vermittelt, ist die Senkrechte die Linie höchster Dynamik. Der Pfahl, senkrecht in die Erde getrieben, ist Kennzeichen des Menschen: seiner Anwesenheit, seiner Form die Erde zu erobern und sein Weg, sich dabei die Grenze zu setzen. Nicht die Linie am Boden, die Senkrechte des Pfahls ist das weithin sichtbare Signal seines territorialen Anspruchs. Die Senkrechten nebeneinader bestimmen in ihrer Dichte die Durchlässigkeit des Zauns und seine Schutzfunktion, zugleich auch sind sie Zeichen menschlicher Angst und meist unbedachte Zeugen einer Isolation. Die einzelne Senkrechte ist zuerst ein deutliches Dokument für Anwesenheit und Besitzanspruch, auch Ausrichtung und Wegweiser für die anderen. Bedrohlich wird sie als Masse - sie weist ab, grenzt aus, verdichtet sich zur Mauer. Wir umgeben uns mit Mauern, immer enger und überschaubarer wird der durch sie eingegrenzte Raum, bis nur mehr einer, der Einzelne, genügend Luft zum Atmen in ihm findet. Begegnung wird vielfach zum geplanten Zeremoniell, von Senkrechten umschlossen. Lässt sich die Menge der Menschen nicht mehr in umschlossenen Räumen gefügig halten, so wird ihre Zahl zur Masse - zu lauter beweglichen, lebendigen Senkrechten. Als Linie des Lebens ist die Senkrechte aufsteigend, sie weist hinaus ins All. Hier wird sie dem Menschen zur Ausrichtung nach dem Fernen, zur Sehnsucht nach dem Unbekannten, zur Pfeilrichtung und Flugbahn körperlicher und geistiger Freiheit. Das Oben ist auf kürzestem Weg nur durch die Senkrechte zu erreichen, das Oben - jener zentrale Begriff, der die Phantasie aus ihrer erdhaften Verbundenheit entreißt und sie im Transzendentalen, oft auch in mystischen Spekulationen Ordnungsschemata für gemeinsame Orientierung entwerfen lässt. Die Senkrechte ist der steilste Aufstieg und birgt die größte Gefahr des überstürzten, ungewollten Falls. Der freie Fall ist die schärfste aller Senkrechten, die abwärts weist. Dabei ist der freie Fall als Linie nur Bewegung und somit Erfahrungspotential für Zeit, bisweilen für den Ton und letzlich für Vergangenheit und Erinnerung. Keine sichtbare Spur hinterlässt sein Durchschneiden, so scharf, so glatt und unwiderruflich ist seine Bewegung, dass diese Senkrechte nur dem Geiste kompatibel erscheint. Wird dem freien Fall in der Dichte des Regens Dauer und Sichtbarkleit zuordbar, so verliert seine Linie durch die Weichheit des Tropfens und durch das begleitende Spiel des Windes viel von seiner harten Eindeutigkeit. Am Ende des freien Falls finden wir uns schmerzhaft zurückgeworfen aber auch heimgeholt zu unseren Wurzeln, zu den Bedingungen von Natur, die uns den Aufstieg entlang der Senkrechten nicht verwehrt. Wir sind wieder unten. Aber dieses Unten stellt nur den einen Endpunkt dar zum zweiten, zum Oben, zwischen denen die Senkrechte sich spannt. Somit ist die Senkrechte zur ständigen Herausforderung des Geistes geworden, das Oben neu zu dimensionieren und das Unten nicht als endgültigen Endpunkt zu akzeptieren. Auch das Unten ist keine unwiderruflich gleichbleibende Basis. Es gehört zerschlagen und neu geformt zur Errichtung von immer neuen Senkrechten, die dann mehr Chance haben, im Unbekannten anzukommen. Dieser Ausgangspunkt als Auseinandersetzung mit der Senkrechten ist seit Herbst 1996 Hauptthema meiner bildnerischen Arbeit. Die der Senkrechten zugehörigen Varianten werden zum bestimmenden Diktat des Malprozesses. Einerseits als bewegte, gebrochene, sich überlagernde Linien zur Metapher für das bedrohte und zugleich immer auch siegreiche Leben, für das urwüchsig Lebendige schlechthin geworden und andererseits als strenge Linie Ausdruck des Willens und des konsequenten Denkens, entwickelt die Senkrechte in sich eine Gegensätzlichkeit, die wesentlich zur Seinsbestimmung des Menschen gehört und in dieser Differenz als Polarität der Person erfahrbar wird. Eine Differenz allerdings, die im Malprozess focusiert auch dem ästhetischen Gestaltungswillen zum Problem wird. Entspricht es dem Menschen, die ihn bestimmenden Gegensätze in sich auszuhalten, so entspricht es der Kunst, diese Gegensätze ohne der schöngeistigen Vernebelungsstrategie der geglückten Harmonisierung deutlich zur Sprache zu bringen. Die bewusste Verweigerung, auch die sich massiv aufdrängende Horizontale zum Thema der Arbeit zu erheben, kann sich noch damit begründen, dass die Konzentration auf eine Thematik zur Vertiefung des Gedankens und zur Klarheit der Gestaltung beitragen wird. Unmöglich ist es aber, die in der Senkrechten selbst gründende Differenz zwischen Bewegtheit und Strenge auszuklinken. Die Forderung des Kunstmarktes nach Einheitlichkeit des Striches, nach Wiedererkennung der Gestaltungsweise, die einem Maler eigentümlich ist, muss hier negiert werden. Es gilt, sich der Forderung der Senkrechten zu beugen und sie im Wechselspiel ihrer differierenden Eigenschaften sich entwickeln zu lassen. Was sich als Thematik im Spiel der Senkrechten anbietet, bestimmt zugleich damit die Farbpalette, die dementsprechend zwischen Monochromie und Buntheit schwankt. Der oft markante Bruch in der technischen Ausführung und in der Farbgebung von einer Bildserie zur nächsten ist somit die konsequente Beibehaltung eines ästhetischen Konzepts, das der Spontaneität des Malaktes verpflichtet ist.
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